Während Auto-Tune und Auto-Tuning die deutschen Musikcharts beherrschen, traut sich dank Facetune kaum noch ein weiblicher Teenager auf die Straße. Stattdessen warten sie lieber Zuhause in ihrem Tik-Tok-Universum verzweifelt auf ihren 16. Geburtstag, um sich endlich legal beim Frisör die Wimpern färben zu lassen. Immerhin haben sich Lisa und Lena hier neulich von ihren fast 33 Millionen Followern verabschiedet – angeblich, weil sie sich nun ganz ihrer Schauspielkarriere widmen wollen und natürlich „wegen allgemeiner Sicherheitsbedenken“. In Zeiten, in denen jede Woche ein anderer großer Anbieter eine Pressemitteilung zu einem Datenleck veröffentlicht und Flugzeughersteller ihre Software nur mangelhaft testen, könnte man diese Sorgen fast ernst nehmen. Selbst ich habe inzwischen deutlich mehr Passwörter in meinem digitalen Schlüsselbund als Samsung kaputte Falthandys im Postfach.

Nikon D800 – Nikkor 50mm 1,4G | @hannafasching

Ich schreibe bewusst “fast”, denn die wahren Gründe hinter dieser Entscheidung dürften am Ende wohl eher von monetärer Natur sein. Vielleicht haben sie sich ja vom Erzbistum Paderborn inspirieren lassen, welches sich als katholischer Smaug auf einem Vermögen von 4 Milliarden Euro ausgebreitet hat. Dabei gäbe es so viele, unterstützenswerte Projekte: Alleine die Datenbank des DZI umfasst 230 Organisationen, die von Viva Con Agua bis zur Zukunftsstiftung Entwicklung reichen und deren Engagement weit über den Wiederaufbau von Kathedralendächern hinausgeht. Doch auch Blogs wie Kwerfeldein, die versuchen die fotografische Artenvielfalt zu erhalten, sind dringend auf finanzielle Hilfe angewiesen.

Sony A7 R3 – Sigma 135 mm 1,8 | Munduk Moding Plantation (Bali)

Anstatt Geld an Afrika zu spenden, macht man sich heutzutage als Armutstourist auf einer geführten Slum-Tour lieber im wahrsten Sinne selbst ein Bild vor Ort, ganz authentisch mit Leica M10-P und Elektro-Roller in einer von Kapstadts besseren Townships. Nach einem anstrengenden Tag klopft man sich dann wohlverdient im Pool des Hoteldaches bei einem Fair-Trade-Cocktail auf die Schulter und beantwortet fleißig, mit dem ganzen Arsenal an zur Verfügung stehenden Emojis, jede aufploppende Frage zur neuen Insta-Story.

Nikon D800 – Sigma 35 mm 1,4 | @katjakemnitz

Alternativ inszeniert man sich, nachdem man sein Social-Media-Profil jahrelang mit Luxus-Autos, teuren Fernreisen und Designerklamotten geflutet hat, plötzlich als Umweltschützer/in im Captain Planet-Stil, um sich dem Zeitgeist entsprechend zuerst von den eigenen 6 Millionen Followern und anschließend vom Pro7-Publikum bei den About You Awards feiern zu lassen.

Nikon D800 – Sigma 50 mm 1,4 | @maren_reith

Von süßen kleinen Elefantenbabys in Kenia führt unser Weg nun zu einem kleineren und noch süßeren Säugetier nach Wiesbaden, der nach einer Zahn-Operation das Zeitliche gesegnet hat. Wer nun glaubt, dass Mr. Pokee zwar ein kurzes, aber glückliches Leben hatte, der sollte eines wissen: Glücklich aussehen und glücklich sein sind zwei verschiedene Dinge. Drückt man bei der Fütterung von Würmern nämlich im richtigen Moment auf den Auslöser und greift später auf das Stempelwerkzeug von Lightroom oder Photoshop zurück, entsteht so die Illusion des lachenden Igels. Fast könnte man meinen, er hätte die Zeit neben Paul Hewitt-Uhren oder in Kapten&Son-Rucksäcken bis zu seinem letzten Atemzug genossen – und vielleicht hat er das ja auch. Zum Glück stehen Talitha jede Menge Backup-Igel zur Verfügung, sodass das stachelige Spektakel auch in Zukunft weiterhin Menschen in aller Welt begeistern wird.

Sony A7 R3 – Sony 55mm 1,8 | @mademoments_

Zu guter Letzt bringt mich der Gedankenzug wieder zurück zum Gleis 9 3/4 nach Hamburg. Wenig später halte ich vor dem Zebrastreifen an und blicke durch die Windschutzscheibe meines neuen Autos auf das sonderbare Bild vor mir. Hier passiert gerade eine mit neongelben Warnwesten überzogene Schlange, bestehend aus Waldkindergarten-Kinder, die Straße. Neidisch betrachte ich die kleinen Schuhe, die beim Auftreten zu blinken beginnen und frage mich, warum es so etwas nicht für Erwachsene gibt. Hand in Hand strömen sie langsam an mir vorbei wie der Plastikmüll im Meer, bevor sie unter den Baumkronen verschwinden. Ob es ihnen am Ende gelingen wird, vor der nächsten Masern-Epidemie zu fliehen, bleibt nur eine von vielen ungeklärten Fragen. Als der letzte Zwerg außerhalb der Reichweite meines Kühlergrills stolziert, nehme ich behutsam den Fuß von der Kupplung, drücke das Gaspedal sanft nach unten und fahre weiter zu meiner Verabredung mit dem Sommer. Unser letztes Treffen ist schließlich schon wieder viel zu lange her.