Das Sigma 35 mm 1,4 Art gehört schon ungefähr so lange zu mir wie mein Arztausweis, weswegen es an der Zeit ist, einmal über meine Erfahrung damit zu berichten. Wenn man an dieses Objektiv denkt, verbindet man (zumindest ging es mir früher so) meistens einen ganz gewissen Bilderstil damit: „Der-Morgen-nach-der-verrückten-Partynacht-mit-anschließendem-hemmungslosen-Sex-und-nun-sitzt-sie-in-die-Bildmitte-geklatscht-morgens-halbnackt-in-dem-viel-zu-großen-amerikanischen-Basketballpullover-mit-Baseballkappe-vor-dem-sonnendurchfluteteten-Fenster-in-der-Küche-auf-dem-Stuhl-mit-einer-Zigarette-in-der-einen-und-einer-Tasse-Kaffee-in-der-anderen-Hand-und-streckt-sich-so-in-die-Kamera-dass-man-ihr-individuelles-Tattoo-sehen-kann-und-schaut-einen-mit-dem-Blick-wir-sind-frei-und-uns-ist-alles-egal-auch-das-vsco-Preset-mit-welchem-das-Foto-bearbeitet-wurde-an-und-mittlerweile-weiß-man-gar-nicht-mehr-wer-das-Bild-überhaupt-aufgenommen-hat.“ Etwas kürzer gefasst: „Cro“-ig. Für manche ist dieser Zusammenhang bis heute ein Grund, weshalb es das Objektiv – trotz vieler positiver Rezensionen – nie aus dem Einkaufswagen bei Amazon bis vor die Haustür geschafft hat. Manche fahren aus den selben Gründen auch keinen 3er BMW, obwohl es sich höchstwahrscheinlich um ein gutes Auto handelt. Manchmal geht es eben nicht nur um Qualität, sondern auch um ein Image und einen gewissen Lifestyle.

Ich ließ mich davon jedoch nicht abschrecken und so klingelte im Juli 2014 der Postbote an meiner Tür und drückte mir das lang erwartete Paket in die Hand. Zwei Tage später ging es unerwartet wieder zurück, denn der Autofokus traf weniger häufig als ich zu dem damaligen Zeitpunkt eine Vene. Trotzdem nahm ich mir vor dem ganzen Unterfangen einige Monate später eine zweite Chance zu geben. Anstatt es online zu bestellen, suchte ich dieses Mal einen Fotoladen auf. Glück sollte ich wieder keines haben: Der Autofokus meiner Kamera und das Objektiv wollten einfach keine Freunde werden. Also bekamen beide einen kostenlosen Urlaub spendiert und verreisten zusammen in einer gesicherten Transportbox in die Carl-Zeiss-Straße nach Rödermark, wo auch immer dieser Ort sein mag. Zwei Wochen später kamen beide gut erholt wieder bei mir zuhause an und endlich stimmte die Harmonie – und das ganz ohne Melitta.

35 mm ist keine einfache Brennweite. Für Landschaftsaufnahmen fehlen einem immer ein bisschen Weitwinkel, wohingegen bei Close-Up-Portraits Gesichter leicht verzerrt werden. In dieser Welt dazwischen zeigt das Objektiv jedoch sein volles Potential. Die Freistellung, die Farben, das Bokeh und auch die Schärfe, die man hier beispielsweise bei Ganzkörperportraits erreichen kann, sind wirklich einzigartig. Mit ein bisschen Übung gelingen einem dann doch schöne Landschaftsbilder und mit dem richtigen Gesicht und ein bisschen mehr Abstand als gewohnt, sind auch Portraits ohne Probleme möglich. Trotzdem neigt man dazu, die Person sehr mittig zu zentrieren, da so der Bildeindruck oft stimmiger erscheint. Wer sich einmal anschauen will, was mit 35mm alles möglich ist, sollte sich unbedingt die Bilder von Marat Safin anschauen. Zwar benutzt er das Pendant von Nikon, die Bilder sind aber so oder so einen Blick wert: Marat Safin.

In Zeiten, in denen man nicht einmal Lust hat die Verantwortung auf seinen Schultern zu tragen, wird ein Objektiv, welches mehr als doppelt so schwer und fast doppelt so lang ist wie das Nikkor 50mm 1,4G auch nach dem Kauf noch manchmal kritisch beäugt. Insbesondere auf Reisen sind mir das Objektiv und eigentlich auch meine Nikon D800 einfach eine Spur zu groß. So liebäugle ich momentan mit dem Kauf einer Fujifilm X70. Je älter man wird, desto mehr erinnert einen das Leben an ein Golfspiel. Befördert man anfangs den Ball mit irgendeinem Schläger in die Luft, passt man sich später der jeweiligen Situation an und zieht den passenden Lob Wedge aus der Tasche. Einen Caddie, der mein ganzes Kameraequipment trägt, habe ich bis heute leider noch nicht gefunden. Da fällt mir ein: Bis jetzt habe ich nur einmal in meinem Leben Golf gespielt, und zwar in Schottland. Es war dunkel, es regnete und ich hätte auf dem Platz gar nicht sein dürfen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich damals überhaupt den Ball getroffen habe.

Apropos kalt und Regen: Ein Jahr nach dem Kauf traten draußen in der Kälte plötzlich Wasserflecken unter der Frontlinse auf, die auch nach längerem Warten nicht verschwanden. Kondenswasser auf der Frontlinse ist ein typisches Problem, welches bei kalten Außentemperaturen fast jeden Fotografen betrifft. Dass sich jedoch Wasser unter der Linse sammelt, hatte ich bis dato noch nicht beobachtet (und auch nicht allzu viele Informationen im Internet darüber gefunden). Dieses Problem führte dazu, dass ich das Objektiv nicht mehr einsetzen konnte und zum zweiten Mal über den Händler einschicken musste. Nach zwei Wochen bekam ich es mit der Anmerkung zurück, dass mit dem Objektiv alles in Ordnung sei. Nun wusste ich wie sich kranke Patienten fühlen, denen alle sagen, dass sie gesund sind. Doch anstatt von Arzt zu Arzt zu rennen, dokumentierte ich das ganze Problem mit Bildern und schrieb eine lange Email an Sigma. Wenig später befand sich das Objektiv wieder auf dem Weg nach Rödermark. Mittlerweile glaube ich ja, dass das Objektiv einfach noch einmal dort Urlaub machen wollte. Während seines Aufenthalts wurde die Frontlinse getauscht und alles funktionierte wieder tadellos – von wegen gesund! Manchmal muss man im Leben einfach hartnäckig bleiben.

Trotz der oben genannten Strapazen würde ich das Objektiv wieder kaufen. Welche Art Bilder man damit macht, hat man immer selbst in der Hand. Und auch wenn es noch ein bisschen dauern wird, bis ich damit so frei und ungezwungen fotografieren kann wie mit meinem 50mm, würde ich es nicht mehr hergeben wollen. Denn Stück für Stück fängt man auch an neue Dinge auszuprobieren, die davor so nicht möglich waren.

Für dieses Jahr habe ich mir vorgenommen auch das Sigma 50 mm 1,4 Art einmal auszuprobieren. Ich bin gespannt, ob es am Ende des Jahres einen Platz in meiner Fototasche finden wird. Dort gibt es zwar weniger Platz als in der Frauenabteilung in einem H&M an einem Samstagmittag, aber mit solchen Problemen beschäftige ich mich erst, wenn es dann wirklich soweit ist.

Beurteilung
Reisetauglichkeit
Bildqualität
Preis-Leistungs-Verhältnis

Trotz einer langen Odysee bis zu jenem Tag, an dem das Objektiv und ich endlich sehr gute Freunde wurden, kann ich das Sigma 35mm 1,4 ART absolut empfohlen.

Transparenz: Das Produkt wurde erworben.